Chinchorro balsamierten in der Atakama-Wüste zweieinhalb Jahrtausende vor den Ägyptern Mumien. 1100 v. Chr. verschwand das Volk, ihre Kinder-Mumien blieben aber.


Als Ursprungsland der geheimnisvollen Kunst der Totenkonservierung galt immer Ägypten. Das eigentümliche Handwerk des Balsamierens ist vom Nil bekannt, so dass Mumienexperten des 19. Jahrhunderts keinen Grund sahen, woanders auf der Welt nach Hinweisen zu suchen.

Es schien, das keine andere frühe Kultur in der Lage - befähigt - war, diese Mumifizierung durchzuführen. Der australische Anatom Grafton Elliott Smith schrieb sogar in seinem Buch «The Migrations of Early Culture», dass die Alten Ägypter die Erfinder der Balsamierungskunst seien und dieses Handwerk in der ganzen Welt bis nach Südamerika verbreitet haben.

Diese Thesen ließen sich allerdings nicht - wie nicht anders erwartet - beweisen. 1980 wurden in Chile sensationelle archäologische Funde gemacht, die belegen, dass es ein Volk gab, dass zweieinhalb Jahrtausende schon vor den Ägyptern in der Lage war, die Kunst des Balsamierens auszuführen. Am Rande der chilenischen Atakama-Wüste fand man Mumien, die in einzigartiger Schönheit geschaffen wurden, dass Mumienforscher noch heute fasziniert sind.

Die ältesten einbalsamierten Leichname der Welt wurden Chinchorro-Mumien genannt. Mit ihren schimmernden schwarzen und roten Gesichtsmasken und Körperhüllen zählen sie zu den aufwändigsten dekorierten Mumien aller Zeit.

Bernardo Arriaza - der physikalische Anthropologie an der Universität in Nevada lehrt und als Wissenschaftler ein ausgezeichneter Kenner der Chinchorro-Mumien ist ... - war wie gerade der glückliche Zufall es will, während des Urlaubs wie jedes Jahr im Archäologischen Museum der Universidad de Tarapacá in Arica, wo er über diese Mumien Forschungen betreibt, als er und ein Team von Arbeitern des örtlichen Wasserversorgungsunternehmens zu einem Fundort an die Hänge des El Morro gerufen wurden. Mit Bulldozern und Schaufeln hatte man bei der Verlegung einer neuen Wasserleitung Mumienn freigelegt. Bereits 1917 hatte der deutsche Archäologe Max Uhle in Arica bei Grabungen ähnliche Mumien gefunden. Entlang der chilenischen Nordküste wurden immer wieder einmal einzelne maskierte Mumien entdeckt.

Die Mumien stammen von einem frühen Andenvolk, welches von chilenischen Archäologen Chinchorro genannt wurde. Sie lebten in Dörfern am Meer und ernährten sich vor allem vom Fischfang. Gefischt wurde mit kompliziert geknüpften Netzen und mit der Harpune jagte man Seelöwen. Vom Amazonas konsumierten sie halluzinogene Pflanzen. Als Schmuck trugen sie Halsketten aus Lapislazuli - ein Edelstein - und exotische Vogelfedern. Der Kopf war mit einem Turban aus Baumwolle eingehüllt. Schilf- oder fellbedeckte Hütten, deren Boden aus Seegras bzw. Lehm bestand, waren ihre Unterkunft.

96 Leichen konnten Arriaza und seine Kollegen auf einer Fläche von 23 Quadratmetern bergen. Jede dieser Mumien war künstlich mumifiziert und trug eine modellierte Maske, die, so vermuten die Wissenschaftler, dem Gesicht des Verstorbenen nachempfunden war. Die Mumien lagen verstreut - manche jedoch lagen dicht nebeneinander - und alle hatten den Blick auf das Meer gerichtet. Grabbeigaben wurden nur wenige gefunden. Alle Leichen lagen so da, als ob sie gar nicht begraben werden sollten.

Da Marvin Allison - ein Mumienexperte und Pathologe der University of Virginia - wegen anderer Untersuchungen keine Zeit hatte, beauftragte er Arriaza die Mumien auf Alter und Geschlecht hin zu untersuchen. Er gab Arriaza einen Schnellkurs in Anatomie und Pathalogie bevor dieser mit der Arbeit begann. Um die Leichname nicht noch weiter zu entwürdigen, hielt er jeden Arbeitsschritt genau fest, um den Aufbau jeder Mumie genauesten rekonstruieren zu können.

Die Dokumentation schien Arriaza eines Tages nicht aufwendig genug, weshalb er Allison mitteilte, nicht weiter an den Mumien sektieren zu wollen. Nun mußte Allison selbst die begonnene Arbeit fortsetzen, was ihm verärgerte. Arriaza sah die Eingriffe als zerstörisch an und ließ einige Mumien verschwinden, die er in der Universidad de Tarapaca in Arica unterbrachte.

Die Mumien, welche Arriaza, beiseite geschafft hatte, waren alles Kinderleichen kaum alt genug um laufen zu können bis bereits im Mutterleib Gestorbene. Diese Leichen waren mit winzigen Gesichtsmasken und Körperhüllen aus Lehm so sorgfältig hergerichtet wurden, dass man glauben muß, sie seien für die Ewigkeit geschaffen worden. In unseren Tagen erhalten tot geborene oder als Säugling gestorbene Kinder meist nicht so eine große Trauerfeier.

Für die Mütter der Chinchorro war der Schmerz nach dem Tod eines Kindes nicht von seinem Alter abhängig - eine Mutter war genauso erschüttert, wenn ein Kind statt zwei Jahre nur einen Tag gelebt hatte. Jedes Menschenwesen scheinen die Chinchorro verehrt zu haben. Meist starben die Kinder an verschiedenen Infektionen, die durch Bakterien, Parasiten oder Viren ausgelöst wurden. eine Chinchorro-Mutter hat zumindest einmal den schrecklichen Verlust eines ihrer Kinder erlebt. Man vermutet, dass jedes vierte Kind dieses Stammes im Kindesalter starb. Wissenschaftler glauben zu wissen, dass diese Trauer erst diese Mumifizierung erfunden hat. Nur Kinderleichen wurden so sorgfältig präpariert und kunstvoll bestattet. Wissenschaftlich begründet ist, dass der Tod eines Kindes für die meisten Eltern traumatisierend ist. Grund dafür ist, das Mutter wie Vater niemals damit rechnen, dass ihr Ein und Alles vor ihnen sterben würde. Mütter haben meist ein unerträgliches Gefühl der Leere und körperlichen Schmerz. Hormone und die Biologie steuern Mütter ihre Kinder auch nach deren Tod zu umsorgen.

Tiefe Trauer der Chinchorro-Mutter könnte die Idee geboren haben, ihre Kinder durch dieses Ritual zu konservieren, was von Generation zu Generation weitergegeben wurde. An den Mumien wurde wochenlang gearbeitet. Der Kinderleiche wurde zuerst die Haut mit größter Vorsicht abgezogen und zusammengerollt. Dann entfernte man das Fleisch von den Knochen und band dann mit Stöckchen das Skelett wieder zusammen, polsterte mit Schilfrohr aus und trug eine dicke, aschefarbene Paste auf, in die man die Gesichtszüge und Körperkonturen formte. Über diese Gestalt wurde die Haut gestreift. Der Kopf erhielt eine Art Perücke. Darauf kam die blau-schwarz schimmernde aus Manganblende hergestellte Farbe, die nur an einer bestimmten Stelle am Arica-Strand gefunden wurde. Um diese halbmetallischen Pigmente herzustellen, mußte viele Stunden Sand durchgesiebt werden. Mit Wasser wurde die hergestellte Farbe vermischt und mit Graspinseln aufgetragen.

Das Ritual hat bestimmt den Chinchorro über den Schmerz ihres toten Kindes hinweggeholfen, denn sie praktizierten es mehr als 3000 Jahre. Im Laufe der Jahrhunderte stand dieses heilige Ritual allen Personen der Gemeinschaft zu - unabhängig vom Alter oder Stellung. Mund und Augen der Toten waren geöffnet - für die Chinchorro waren sie nicht tot, sondern nur ihr Seinszustand hatte sich geändert.

1100 v. Chr. sind die Chinchorro verschwunden, allerdings ließen sie die Kinder-Mumien zurück, die dann der Sand zu deckte.